Das "Jellinek - Schema"
Professor Dr. E.M. Jellinek untersuchte im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehrere tausend Fallgeschichten von Alkoholikern. Diese erste und bis heute grundlegende Untersuchung über die Krankheit Alkoholismus mündet in ein Schema von fünf Formen, von denen zwei als krankhaft angesehen werden (Gamma - und Delta - Alkoholismus). Bei dem sehr häufigen Gamma - Alkoholismus wurden vier Phasen unterschieden und - innerhalb dieser Phasen - 45 Stufen.
Der Alpha-Typ (Erleichterungstrinker) trinkt, um innere Spannungen und Konflikte (z. B. Verzweiflungen) zu beseitigen („Kummertrinker“). Die Menge hängt ab von der jeweiligen Stress-Situation. Es besteht vor allem die Gefahr psychischer Abhängigkeit, da noch keine körperliche Abhängigkeit eingetreten ist. Alphatrinker sind nicht alkoholkrank, aber gefährdet.
Der Beta-Typ (Gelegenheitstrinker) trinkt bei sozialen Anlässen große Mengen, bleibt aber sozial und psychisch unauffällig. Betatrinker haben einen alkoholnahen Lebensstil. Gesundheitliche Folgen entstehen durch häufigen Alkoholkonsum. Sie sind weder körperlich noch psychisch abhängig, aber gefährdet.
Der Gamma-Typ (Rauschtrinker, Alkoholiker) hat längere abstinente Phasen, die sich mit Phasen starker Berauschung abwechseln. Typisch ist der Kontrollverlust: Er kann nicht aufhören zu trinken, auch wenn er bereits das Gefühl hat, genug zu haben. Auch wenn er sich wegen der Fähigkeit zu längeren Abstinenzphasen sicher fühlt, ist er alkoholkrank.
Der Delta-Typ (Spiegeltrinker, Alkoholiker). Die Bezeichnung Spiegeltrinker bezieht sich bei dieser Alkoholismusform auf den Blutalkoholspiegel, also die Konzentration des Alkohols im Blut des Abhängigen; diese wird von ihm möglichst gleichbleibend im Tagesverlauf (und auch nachts) gehalten. Dabei kann es sich durchaus um vergleichbar geringe Konzentrationen handeln, die aber im Verlauf der fortschreitenden Erkrankung und der damit sich erhöhenden Alkoholtoleranz ansteigen. Der Abhängige bleibt lange Zeit sozial unauffällig („funktionierender Alkoholiker“), weil er selten erkennbar betrunken ist. Dennoch besteht eine starke körperliche Abhängigkeit, so dass er ständig Alkohol trinken muss, um Entzugssymptome zu vermeiden. Durch das ständige Trinken entstehen körperliche Folgeschäden. Deltatrinker sind nicht abstinenzfähig und alkoholkrank.
Der Epsilon-Typ (Quartalssäufer, Alkoholiker) erlebt in unregelmäßigen Intervallen Phasen exzessiven Alkoholkonsums mit Kontrollverlust, die Tage oder Wochen dauern können. Dazwischen kann er monatelang abstinent bleiben. Epsilontrinker sind alkoholkrank.
Die Reihenfolge der vier Phasen steht fest, wobei diese jedoch oft unmerklich ineinander übergehen. Die Aufzählung der 45 Stufen bedeutet allerdings nicht, dass der Alkoholiker sie auch alle durchlaufen muss oder genau in der Reihenfolge. Die Stufen sind vielmehr typische Merkmale oder Symptome der fortschreitenden Alkoholkrankheit. Sie können übersprungen werden oder auch fortfallen; nicht erwähnte Merkmale können hinzukommen. In ihrer Gesamtheit treffen die Stufen wie ein Mosaik aufeinander und zeichnen so das Bild des Alkoholikers.
Phasen und Stufen:
Gelegentliches Erleichterungstrinken
Erhöhung der Alkoholtoleranz
Häufiges Erleichterungstrinken
B. Anfangsphase
1. Gedächtnislücken
Plötzliches Auftreten von Erinnerungslücken unter Alkoholeinfluss - medizinisch Amnesien genannt. Sie können ohne Anzeichen von Trunkenheit auftreten. Der Trinker kann eine vernünftige Unterhaltung führen oder schwierige Arbeit leisten, ohne am nächsten Tag eine Erinnerung daran zu haben, wenn auch noch einzelne Einnerungsfetzen bestehen. Der Alkohol hört praktisch auf, ein Getränk zu sein, sondern wird als "Medizin" benötigt, die der Trinker braucht.
2.Heimliches Trinken
Aus dem Unbewussten entwickelt sich bei dem Trinker die vage Vorstellung, dasser anders als andere Leute trinkt. Um nicht aufzufallen oder falsch beurteilt zu werden, sucht er bei Geselligkeiten Gelegenheiten zum Trinken von ein paar Gläsern ohne das Wissen der anderen; er trinkt "heimlich".
3. Dauerndes Denken an Alkohol
Ohne sich dessen recht bewusst zu werden, denkt der Trinker oft, und über das normale Mass hinaus an Alkohol, ein Beweis für seinen erhöhten Bedarf.
4.Gieriges Trinken
Wegen seiner vermehrten Alkoholabhängigkeit tritt jetzt das "gierige Trinken", nämlich das hastige Herunterkippen der ersten Gläser auf.
5. Schuldgefühle wegen der Trinkart
Da der Trinker sich allmählich bewusst wird, dass sein Trinken ungewöhnlich ist, entwickeln sich bei ihm Schuldgefühle wegen seines Trinkstils.
6. Vermeiden von Anspielungen auf Alkohol
Aus dem vorgenannten Schuldgefühl heraus beginnt der Trinker, bei Unterhaltungen Anspielungen auf Alkohol zu vermeiden.
7. Häufigkeit der Gedächtnislücken
Die Häufung von Gedächtnislücken, in Verbindung mit dem Verhalten 2.-6., wirft den Schatten der Alkoholsucht voraus und sollte dem Trinker als dringende Warnung dienen.
C. Kritische Phase
8. Unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol nach dem ersten Glas (Kontrollverlust)
Es ist das Stadium erreicht, in dem bei dem Trinker ein unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol entsteht, sobald eine kleine Menge Alkohol in seinen Körper gelangt ist. Dieses Verlangen wird als zwingender Bedarf empfunden und hält gewöhnlich an, bis der Trinker zu betrunken oder zu krank für eine weitere Alkoholaufnahme ist. Dieser alkoholische Exzess, medizinisch Alkoholabusus genannt, braucht nicht durch irgendein persönliches oder psychisch bedingtes Bedürfnis eingeleitet zu werden, sondern kann aus einer "harmlosen" gesellschaftlichen Gelegenheit entstehen. Der "Kontrollverlust" bedeutet nicht, dass der Trinker immer trinken muss, er setzt vielmehr erst während des Trinkens und durch das Trinken ein.
Der Trinker hat in der konkreten Situation noch immer die Entscheidungsfreiheit darüber, ob er trinken will oder nicht. Das wird durch die freiwilligen abstinenten Perioden bewiesen, die oft nach derartigen Exzessen eingehalten werden.
In diesem Zusammenhang wird oft die Frage erhoben, warum der Trinker trotz seiner verhängnisvollen Erfahrungen bei wiederholten Exzessen denn immer wieder anfängt, zu trinken. Er ist in diesem Stadium bereits alkoholabhängig geworden, wenn es ihm auch nicht bewusst ist. Sein Wille in Verbindung mit Alkohol ist zumindest beeinträchtigt, er selbst glaubt jedoch, dass er seine diesbezügliche Willenskraft nur vorübergehend verloren hat und sie daher wiedererlangen kann und muss. Er ist sich jedoch nicht darüber im klaren, dass in ihm ein Vorgang (Abhängigkeitserkrankung) abgelaufen ist, der es ihm unmöglich macht, seinen Alkoholkonsum über längere Zeiträume hinweg einzuschränken oder zu kontollieren.
9. Erlärungen, warum man so trinke (Alkoholausreden, Alibis)
Mit dem Einsetzen des Kontrollverlustes beginnt der Alkoholiker sein Trinkverhalten zu erklären und schafft sich durch "Alkoholausreden" Alibis, d.h. Erklärungen, die ihn selbst davon überzeugen sollen, dass er die Kontrolle nicht verloren hat. Er redet sich selbst ein, dass er "guten Grund" zum Sichbetrinken habe und er ohne diesen "Grund" genauso mässig trinken oder abstinent bleiben könne wie andere. Hier setzt der grosse unbewusste Selbstbetrug des Alkoholikers ein, und damit verbunden der Betrug an seiner Umwelt.
10. Soziale Belastungen
Dieser Selbstbetrug ist nun beim Alkoholiker der Anfang eines ganzen "Erklärsystems", das sich immer mehr auf jede Ebene des Lebens ausbreitet. Dieses "System" dient nun auch als Widerstand gegen die sozialen Belastungen, die zusammen mit dem "Kontrollverlust" entstehen. Seine Trinkart fällt unterdessen auch der Umwelt auf, Angehörige, Freunde, Kollegen und Arbeitgeber beginnen den Alkoholiker zu tadeln oder zu warnen.
© U.M.Matthees/Alkohol